3. Studientag Literatur und Wissenschaftsgeschichte

3. Studientag Literatur und Wissenschaftsgeschichte

Organisatoren
Jutta Müller-Tamm, Freie Universität Berlin; Christina Brandt, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin; Bernhard Kleeberg, Universität Konstanz; Johanna Bohley, Freie Universität Berlin; Fabian Krämer, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.07.2008 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Fabian Krämer, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin; Johanna Bohley, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Freie Universität Berlin

Das Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin, das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und das Exzellenzcluster 16 der Universität Konstanz luden am 19. Juli 2008 ein zu einem Blockseminar für Nachwuchswissenschaftler/innen, die im Feld Literature and Science arbeiten. Der seit 2006 jährlich im Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte stattfindende Studientag, der von Jutta Müller-Tamm (Freie Universität Berlin), Christina Brandt (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin) und Bernhard Kleeberg (Universität Konstanz) initiiert wurde, und zusammen mit Johanna Bohley (Freie Universität Berlin) und Fabian Krämer (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin) organisiert wird, bietet allen am Themenbereich Literatur und Wissenschaftsgeschichte Interessierten ein offenes Forum zur Diskussion eigener Arbeiten, wobei vorläufige Ergebnisse noch nicht abgeschlossener Arbeiten aus dem Gebiet von Literature and Science vorgestellt werden. Nach einer Auswahl unter mehreren Bewerbungen wurden in diesem Jahr fünf Nachwuchswissenschaftler/innen eingeladen, ihre Arbeiten in Form von Aufsätzen vorzustellen, die vorab unter den TeilnehmerInnen versendet wurden. Beim Studientag stellte ein/e KommentatorIn die Beiträge zunächst vor. Anschließend wurden sie im Plenum diskutiert.

Auf die Begrüßung der Teilnehmer/innen durch Jutta Müller-Tamm folgte der erste Beitrag von ANGUS NICHOLLS (London) – „Literaturwissenschaft and the 'Science of Literature': Notes on a Comparison between Wilhelm Dilthey and Matthew Arnold“ – der mit der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft eine für Geschichte und Gegenwart dieser Disziplin zentrale Problemstellung ins Blickfeld rückte. Als jüngster Ausdruck der periodisch wiederkehrenden methodologischen Unsicherheiten in den Geisteswissenschaften und besonders in der Literaturwissenschaft wurde eingangs der von der empirisch arbeitenden Kognitionswissenschaft beeinflußte Ansatz des „Cognitive Literary Criticism“ (CLC), vorgestellt. Nicholls zufolge sind solche „Krisen“ bedingt durch den Bedeutungswandel, welchen die Begriffe Wissenschaft und Science in Deutschland bzw. Großbritannien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfahren haben. Nicholls skizzierte daher die Versuche Matthew Arnolds (1822-1888) und Wilhelm Diltheys (1833-1911), für die Literaturwissenschaft bzw. die Geisteswissenschaften einen Platz in der vom Auseinanderdriften der „zwei Kulturen“ bestimmten akademischen Landschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu finden.

Der Kommentar von LAURA OTIS (Berlin) bescheinigte Nicholls, ein für die Literaturwissenschaft zentrales Problem zu thematisieren: „Is it possible to build knowledge about literature?“ Otis wandte sich gegen die von einigen „cognitive literary scholars“ vertretene Ansicht, daß die Funktion, die Sprache in der Literatur annehme, von der in wissenschaftlichen Texten grundsätzlich zu unterscheiden sei. Ebenso lehnte sie die daraus abgeleitete These ab, der zufolge literarisches Schreiben kein Wissen produzieren könne. Empirischer Forschung sprach sie keine großen Erfolgschancen in den Literaturwissenschaften zu. In der Diskussion wurde insbesondere die Spezifität des deutschen Verständnisses von Geisteswissenschaft erörtert sowie damit die Tatsache, daß es im deutschsprachigen Raum anders als im angelsächsischen eine Vorstellung von der Literaturwissenschaft als Wissenschaft gibt. Ferner wurde ein wesentlicher Unterschied zwischen der englischen und der deutschen Debatte der „zwei Kulturen“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgezeigt: Während sie in Deutschland vorwiegend als eine epistemologische geführt wurde, war sie in England (auch) eine soziale, insofern als es vor dem Hintergrund des britischen Bildungssystems eine Klassenfrage war, wer als ausgebildet galt.

In den beiden darauffolgenden literaturwissenschaftlichen Beiträgen kristallisierte sich heraus, Literatur und Wissenschaftsgeschichte weniger als Einfluß-, Kausal- oder Verarbeitungsverhältnis zu definieren, sondern vielmehr die Wechselwirkungen und Zirkulationen von Wissensbeständen in beiden Feldern zu beleuchten. MELANIE BEESE (Duisburg/Essen) stellte mit „Münchhausens Luftreisen im Kontext der physikalisch-technischen und gesellschaftlichen Diskussion über die Anfänge der Ballonfahrt in den 1780er Jahren“ ihr germanistisches Dissertationsprojekt vor, das sich auf die Münchhausen-Romane von Rudolf Erich Raspe und Gottfried August Bürger bezieht. Trotz der einschlägig bekannten literaturwissenschaftlichen, wahrnehmungstheoretischen, wissenspoetischen bzw. interdiskursiven Forschungsliteratur über Ballonfahrten im 18. Jahrhundert verspricht das Vorhaben, gerade in seinem Fokus auf den wissenschafts- und kulturhistorischen Voraussetzungen der Satiren eine zentrale Grundlage für das beliebte Kollektivsymbol der Ballonfahrt zu ermitteln.

STEPHAN KAMMER (Berlin) bezog sich in seinem Kommentar auf die Möglichkeiten einer methodischen Herangehensweise für die Beschreibung dieser Wissensübertragungen bzw. –zirkulationen, die sich vor dem Hintergrund einer noch nicht stattgefundenen Ausdifferenzierung der „zwei Kulturen“ der Natur- und Geisteswissenschaften weitgehend noch als Orientierungswissen und Zirkulation darstellten. Zudem verwies er auf die Bedeutung der Gattung Satire und Lügendichtung im 18. Jahrhundert, die im Zusammenspiel mit einer autodiegetisch unzuverlässigen Erzählinstanz in einer Art verdoppelter Unentscheidbarkeit wiederum ein realitätsgenerierendes Potential enthält. In der Diskussion wurde darauf hingewiesen, daß realistische Fakten und Fiktion in den vorliegenden Quellen nahezu unauflösbar zusammengeführt werden. Dies zog Fragen nach sich zur Poetik des Schwindels sowie zum Topos der Reise zum Mond als dem Ort der dichterischen Phantasie. Außerdem wurde für eine sorgfältige textgenetische Rekonstruktion der zahlreichen, variantenreichen Neuauflagen im Vergleich mit den wissenschaftlichen Zeitschriftenartikeln der Zeit plädiert.

EVA SIEBENBORN (Bochum) präsentierte mit dem Beitrag „Modellierungen der Schwindsucht zwischen literarischem und medizinischem Diskurs (Frankreich, 19. Jahrhundert)“ ein Dissertationsprojekt aus dem Bereich der romanistischen Philologie. Darin untersucht sie die Konfigurationen der Schwindsucht in der französischen Literatur ausgehend vom Realismus bis in die Zeit der Décadence. Hierbei bekommt der französische Begriff „Phtisie“ eine zentrale Funktion, da in ihm semantisch über die Bezeichnung einer Lungenkrankheit hinaus die Aspekte der „Auszehrung“ und somit dezidiert Lebenskraftvorstellungen anklingen. Dieses Lebenskraftkonzept erhält vor der mit dem zweiten thermodynamischen Hauptsatz einhergehenden Erkenntnis, daß die Welt einem sogenannten „todten Beharrungszustande“ entgegenstrebt, eine radikal neue Bedeutung, so daß das im Krankheitsbild der Phtisie beschriebene Schwinden der Lebenskraft sowie in den Metaphern der Zerstreuung, Erschöpfung, Ermüdung und vor allem der Erhitzung einen entropischen Verlauf vorführt. Am Beispiel von Marcel Batilliats „Chair Mystique“ (1897) legte Eva Siebenborn diese Modellierungen von Reiz und Erschöpfung dar und erläuterte, wie die Phtisie erst durch die Semantik der Aufzehrung über mehrere Interdiskurse hinweg erst konstituiert wird.

Der Kommentar von SANDRA JANßEN (Paris, Berlin) reagierte auf die Pathologie als kulturelle Figur und akzentuierte die im literarischen Beispiel vorgeführten Reiz- und Reflextheorien vor dem Spiegel eines physiologischen Unbewußten Ende des 19. Jahrhunderts. In der Diskussion kamen Fragen auf nach den spezifischen literarischen Erzählmodellen der Schwindsucht bzw. Syphilis und den poetologischen Voraussetzungen bzw. dem ästhetischem Potential der Schwindsucht, wie es sich möglicherweise narrativ als Fließen, Intensivierung oder auf phonetischer Ebene niederschlägt.

Die beiden am Nachmittag diskutierten Beiträge setzten sich aus sehr unterschiedlichen und sich fruchtbar ergänzenden Perspektiven mit dem Experiment auseinander. GUNHILD BERGS (Berlin/Halle) programmatischer Beitrag „Das Dispositiv des 'Experiments'. Der Prozess des Definierens und Normierens von Denken, Wahrnehmen und Handeln des Experimentators (1650-1900)“ lotete die Nutzbarkeit der Begriffsgeschichte für die Geschichte des Wissens am konkreten Beispiel des Experiment-Begriffs aus. Die historiographische Forschung zum Experiment hat bislang die Frage unbeantwortet gelassen, wie das Experiment naturwissenschaftlicher Prägung zum allgemein auch außerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen anerkannten Verfahren werden konnte. Ein begriffsgeschichtlicher Ansatz, den Berg als Dispositivgeschichte umschrieb, „welche die historische diskursive Formierung des Begriffs analysiert“, könnte diese Lücke schließen, wie anhand einer Betrachtung der Experimentierbücher des 18. Jahrhunderts gezeigt wurde.

CHRISTINA BRANDT (Berlin) bestätigte in ihrem Kommentar, daß eine Begriffsgeschichte des Experiments ein Desiderat darstelle. Dafür sollte das Verhältnis des Begriffs zum Dispositiv „Experiment“ geklärt werden, so z. B. die Frage, ob der Begriff Teil des Dispositivs sei. Ferner zeigte sie die Gefahr einer exklusiven Fokussierung auf das naturwissenschaftliche Experiment auf. In der Diskussion wurde dieser Punkt unter anderem mit Blick auf das 18. Jahrhundert vertieft, das keine klare Trennung zwischen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Experimenten kannte. Bergs Bestreben, den practical turn der Wissenschaftsgeschichte auch für die Begriffsgeschichte nachzuvollziehen und somit die Wirkungen von Begriffen zu untersuchen, wurde ausdrücklich begrüßt.

SEBASTIAN KÜHN (Berlin) stellte unter dem Titel „Serielle Experimentbeschreibungen im 17./18. Jahrhundert“ den Teil seines in Arbeit befindlichen Promotionsprojekts vor, der sich vorwiegend anhand zweier Quellen mit „literarischen Formen in wissenschaftlichen Experimentberichten“ auseinandersetzt. Bei diesen Quellen handelte es sich einerseits um eine Reihe chemischer Analyseberichte, die zwischen 1667 und 1699 verfaßt und in der Versammlung der Mitglieder der Académie des Sciences in Paris verlesen wurden, zum anderen um die astronomischen Observationsbücher, die vom späten 17. Jahrhundert bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Haushalt des Berliner Astronomen Gottfried Kirch geführt wurden. Kühn zeigte, daß das Schreiben als konstitutiver Bestandteil gelehrter Praxis in der frühen Neuzeit anzusehen ist. Er fragte anhand der beiden Beispiele nach den literarischen Strategien serieller, also über einen längeren Zeitraum immer wieder mit Eintragungen versehener Experimentberichte. Er lehnt ein mimetisches Verständnis von Experimentberichten ab und versteht das „Schreiben als gelehrte Praxis“ im Anschluß an Hansjörg Rheinberger als „wesentliche[n] Teil des Experimentalsystems“. Kühn zeigte ferner, daß die je verwendeten literarischen Formen vom institutionellen Kontext und von den Adressaten des Textes abhängig waren.

URSULA KLEIN (Berlin) hob in ihrem Kommentar die Zentralität des Apotheker-Hintergrundes von Claude Bourdelin hervor, der Experimentator der Académie war, da die Apotheker für die chemische Analyse schon lange die Methode der Destillation verwendeten. Sie problematisierte den Begriff des Experimentalsystems für eine Analyse von Experimenten um 1700, teilte jedoch Kühns Verständnis des Schreibens als konstitutiven Bestandteil gelehrter Praxis. Bezüglich der literarischen Formen der Experimentberichte verwies sie auf einen wichtigen Vorläufer, die in der Apothekerausbildung wichtige Rezeptliteratur. Dieser Punkt wurde in der Diskussion aufgegriffen und zudem Kühns Vorschlag aufgenommen, zusätzlich die Experimentberichte mit frühneuzeitlichen Tagebüchern zu vergleichen. Ferner wurde seine Forderung, auch bei der Analyse solcher nicht-fiktionaler Texte zwischen den Instanzen des Autors und des Erzählers zu unterscheiden, unterstützt, wie auch seine Feststellung für wichtig befunden wurde, daß beide nicht mit der Person des Ausführenden der Experimente bzw. Beobachtungen identisch sein müssen.

Insgesamt zeigten sowohl die Vielfalt der vorgestellten Projekte als auch die rege Teilnahme an der Veranstaltung selbst, daß im Grenzgebiet von Literaturwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte die Fachgrenzen produktiv überschreitend diskutiert wird. Besonders begrüßenswert ist dabei die große Offenheit der beteiligten Disziplinen gegenüber den aus der jeweils anderen Disziplin stammenden Fragestellungen und Methoden, die seit dem ersten Studientag Literatur & Wissenschaftsgeschichte, der 2006 am gleichen Ort stattfand, noch zugenommen zu haben scheint.

Konferenzübersicht:

Begrüßung der TeilnehmerInnen durch Jutta Müller-Tamm

Angus Nicholls (London): Literaturwissenschaft and the “Science of Literature”: Notes on a Comparison between Wilhelm Dilthey and Matthew Arnold
Kommentar: Laura Otis (Berlin)

Melanie Beese (Duisburg-Essen): Münchhausens Luftreisen im Kontext der physikalisch-technischen und gesellschaftlichen Diskussion über die Anfänge der Ballonfahrt in den 1780er Jahren
Kommentar: Stephan Kammer (Berlin)

Eva Siebenborn (Bochum): Modellierungen der Schwindsucht zwischen literarischem und medizinischem Diskurs (Frankreich, 19. Jahrhundert)
Kommentar: Sandra Janßen (Paris)

Gunhild Berg (Berlin, Halle/Saale): Das Dispositiv des „Experiments“. Der Prozess des Definierens und Normierens von Denken, Wahrnehmen und Handeln des Experimentators (1650-1900)
Kommentar: Christina Brandt (Berlin)

Sebastian Kühn (Berlin): Serielle Experimentbeschreibungen im 17./18. Jahrhundert
Kommentar: Ursula Klein (Berlin)


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